Der wars oder? – ’sehr wahrscheinlich‘ in prozentualen Termini

In Anbetracht der juristischen Fragestellungen, die wir uns häufig konfrontiert sehen, bezüglich der Quantifizierung von „sehr wahrscheinlich“ in prozentualen Termini, möchte ich in diesem Artikel erläutern, weshalb ich mich als Gutachter entschieden habe, solche Zahlenangaben zu vermeiden:

Die Wahrscheinlichkeit von Identität oder Nichtidentität wird bewusst als verbales Prädikat angewendet, da biostatistische Kalkulationen problembehaftet sind: Einerseits mangelt es an hinreichend umfangreichen und validierten Datenbanken, die divergente ethnische Provenienz und das Lebensalter berücksichtigen. Andererseits wurden die Referenzabbildungen nicht unter standardisierten Gegebenheiten generiert. Folglich ist die „echte“ Ausprägung der Charakteristika oft nicht erkennbar, und biostatistische Berechnungen basierend auf der „scheinbaren“ Ausprägung würden zu inkorrekten Resultaten führen.


Die menschliche Kognition begegnet gewissen Schwierigkeiten bei der Interpretation von Wahrscheinlichkeiten, da unser Verstand generell Probleme hat, diese objektiv korrekt einzuschätzen. Eine Wahrscheinlichkeit von 99 % erscheint zwar hoch, jedoch stellt sich die Frage, ob dies für eine Verurteilung ausreicht, wenn anderweitig lediglich wenige Indizien vorliegen. Richter und Schöffen sind in solchen Fällen oftmals überfordert, da sie keine Experten für Wahrscheinlichkeiten sind und eine objektive Einschätzung der Situation erschwert ist (Tversky & Kahneman, 1974).
Die Anwendung prozentualer Wahrscheinlichkeiten in forensischen Begutachtungen kann tatsächlich irreführend sein. Die aufgeführten Beispiele verdeutlichen, dass wir bei der Interpretation von Wahrscheinlichkeiten vorsichtig sein sollten.

Nehmen wir beispielsweise das Passagieraufkommen eines großen US-amerikanischen Flughafens, das etwa 2,5 Millionen Passagiere pro Tag beträgt. Wenn es an diesem Tag mit 99,9%iger Wahrscheinlichkeit zu keinem schwerwiegenden Unfall kommt, bedeutet dies, dass es mit 0,1 % Wahrscheinlichkeit doch zu einem Unfall kommt. Bei 2,5 Millionen Passagieren entspräche dies 2.500 potenziellen Unfällen, was eine erhebliche Zahl ist.

In einem anderen Beispiel ist es sehr wahrscheinlich, dass ein Beschuldigter laut Gutachten der Täter ist, und dies mit 95 % Wahrscheinlichkeit. Das bedeutet, dass es eine 5%ige Wahrscheinlichkeit gibt, dass er es nicht ist. Die Tatsache, dass bei einer Hausdurchsuchung die gleichen Kleidungsstücke gefunden wurden, die der Täter trug, oder dass der Betroffene Zugriff auf das Fahrzeug hatte bzw. als Halter des Fahrzeuges eingetragen ist, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte der Täter ist, exorbitant. Als Gutachter müssen wir uns jedoch darauf konzentrieren, die Wahrscheinlichkeiten auf der Grundlage der uns vorliegenden Informationen und Analysen zu bewerten. In diesem Fall sind es die 95% Wahrscheinlichkeit. Die zusätzlichen Informationen und Beweise, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen könnten, fallen in den Zuständigkeitsbereich des Gerichts. Das Gericht wird diese zusätzlichen Faktoren berücksichtigen, um ein umfassenderes Verständnis des Falles zu erhalten und eine fundierte Entscheidung zu treffen. Auf keinen Fall darf sich der Sachverständige dazu verleiten lassen, aufgrund der weiteren Indizien und der Hinweise, die er seitens der Ermittlungsbehörden erhielt, absichtlich oder unabsichtlich aufgrund einer kognitiven Intention, die Wahrscheinlichkeit im Endprädikat aufgrund der vorliegenden Informationen übermäßig zu erhöhen.

Insgesamt sollten Gutachter und Gerichte vorsichtig sein, wenn sie Wahrscheinlichkeiten interpretieren, und alle verfügbaren Informationen und Beweise berücksichtigen, um ein umfassendes Bild der Situation zu erhalten. Dabei sollten sie sich als Sachverständige stets selbst reflektieren und eine kritische Beurteilung vornehmen, um mögliche kognitive Verzerrungen zu minimieren und eine objektive Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten zu gewährleisten.

Weiter zur Identifizierung von Personen anhand von Bildern: Bei der Einschätzung der Häufigkeit eines Merkmals stützt man sich normalerweise auf Erfahrungswerte und agiert dabei vorsichtig, im Zweifelsfall immer zugunsten der betroffenen Person. Abhängig von der Häufigkeit eines Merkmals in der allgemeinen Bevölkerung wird es als wenig charakteristisch, mäßig charakteristisch oder sehr charakteristisch eingestuft. Bei besonders charakteristischen Merkmalen (etwa auffällige Linien und Falten, Narben, Hautveränderungen oder getragene Kleidungsstücke) bezeichnet man diese als individuelle Merkmale.

Für das Endergebnis eines Gutachtens der Bildidentifikation lassen sich nach Schwarzfischer (1992) neun Prädikatsklassen anwenden, von „Identität praktisch erwiesen“ (> 99,72 %) bis „Nichtidentität praktisch erwiesen“ (< 0,28 %). Zwischenprädikate sind möglich, sollten aber näher erläutert werden. Mathematische Häufigkeitsangaben zur Merkmalsausprägung sind kaum möglich, da entsprechende Studien fehlen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass nicht das Einzelmerkmal, sondern die Gesamtzahl der Merkmale den Identifizierungsgrad bestimmt. Bei Menschen mit fremdem ethnischem Hintergrund können viele Merkmale unterschiedliche Häufigkeitsverteilungen aufweisen als bei Mitteleuropäern.

Bei der Evaluierung ist es von essenzieller Bedeutung, selbst marginalen Disparitäten erhöhte Beachtung zu schenken, insbesondere wenn im Vorfeld des Strafverfahrens eine Fahndung unter Verwendung des Täterbildes stattfand. Dieses Prinzip wird als Vorauswahlprinzip (Rösing) bezeichnet. Alle dem Experten präsentierten Verdächtigen werden dem Delinquenten in irgendeiner Form ähneln. Hierbei ist es von entscheidender Relevanz, primär nach potenziellen Exklusionskriterien zu suchen.

Limitationen des Expertengutachtens: Der Sachverständige erstellt sein Gutachten grundsätzlich unter der Prämisse, dass keine engen Verwandten des tatverdächtigen Individuums als alternative Subjekte in Betracht gezogen werden und die vorgelegten Vergleichsfotografien authentisch den Tatverdächtigen repräsentieren (Abgleich Ausweis oder Pass). Bei engen Blutsverwandten als potenzielle Betroffene oder Delinquenten sind spezielle Präventivmaßnahmen erforderlich, wie beispielsweise die persönliche Präsentation oder das Vorhandensein aktueller und perspektivisch adaptierter Vergleichsbildnisse. Bei monozygoten Zwillingen kann die Differenzierung oftmals komplex sein, während dizygotische Zwillinge keine größere Ähnlichkeit aufweisen als reguläre Geschwister.

Fehlerquellen der Bildforensik (Der wars, oder? …doch nicht?)

In der Bildforensik sind verschiedene Fehlerquellen und menschliche kognitive Verzerrungen zu beachten, die die Beurteilung von Lichtbildern beeinflussen können. Einige der möglichen Fehlerquellen und Verzerrungen sind:

• Bildqualität: Die Qualität der Lichtbilder kann die Analyse erheblich beeinträchtigen. Unscharfe Bilder, schlechte Auflösung oder ungünstige Lichtverhältnisse können die Erkennung und Bewertung von Merkmalen erschweren.

• Infrarotaufnahmen: Bei Infrarotaufnahmen werden Hell-Dunkel-Kontraste anders dargestellt als bei optischen Aufnahmen. Infrarotbilder zeigen helle Bereiche dort, wo Objekte gut reflektieren, und dunkle Bereiche, wo sie nicht reflektieren. Dies kann zu einer fehlerhaften Interpretation der tatsächlichen Farbgebung führen.

• Kognitive Voreingenommenheit: Die menschliche Wahrnehmung ist anfällig für kognitive Verzerrungen, die die objektive Beurteilung von Lichtbildern beeinträchtigen können. Dazu gehören Bestätigungsverzerrung (die Tendenz, Informationen so zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen bestätigen) und Ankerheuristik (die Tendenz, sich auf eine frühe Information zu konzentrieren und darauf aufbauend weitere Informationen zu bewerten).

• Falsche Identifizierung: Die menschliche Wahrnehmung ist nicht fehlerfrei, und es besteht die Möglichkeit, dass eine Person fälschlicherweise aufgrund von Ähnlichkeiten in den Lichtbildern identifiziert wird.

• Manipulation von Bildern: In einigen Fällen können Lichtbilder absichtlich manipuliert werden, um bestimmte Merkmale zu betonen oder zu verschleiern, was zu einer fehlerhaften Beurteilung führen kann.

Um diese Fehlerquellen und Verzerrungen zu minimieren, ist es wichtig, dass der Gutachter bei der Bildidentifikation eine methodische und kritische Herangehensweise verfolgt, sich der Grenzen und Unsicherheiten des Prozesses bewusst ist und auf mögliche Fehlerquellen und Verzerrungen achtet.

In der Praxis sollten Gutachterinnen und Gutachter bei der Analyse von Lichtbildern verschiedene Strategien anwenden, um die Genauigkeit ihrer Beurteilungen zu verbessern:

Schulung und Expertise: Eine fundierte Ausbildung und fortlaufende Weiterbildung in der Bildforensik sind unerlässlich, um die Fähigkeit des Gutachters zu verbessern, Merkmale zu erkennen, zu bewerten und mögliche Fehlerquellen zu identifizieren.

Einsatz standardisierter Verfahren: Durch die Anwendung standardisierter Methoden und Verfahren bei der Bildidentifikation kann der Gutachter systematisch und konsistent vorgehen, was dazu beiträgt, Fehler zu minimieren und die Zuverlässigkeit der Ergebnisse zu erhöhen.

Zusammenarbeit mit anderen Experten: Die Zusammenarbeit mit anderen Experten auf dem Gebiet der Bildforensik kann dazu beitragen, unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen einzubringen, um die Qualität der Beurteilung zu verbessern und mögliche kognitive Verzerrungen auszugleichen.

Kritische Selbstreflexion: Gutachter sollten sich ihrer eigenen kognitiven Verzerrungen bewusst sein und stets bereit sein, ihre Annahmen und Schlussfolgerungen zu hinterfragen, um eine objektive und unvoreingenommene Beurteilung zu gewährleisten.

Transparente Dokumentation: Eine sorgfältige und transparente Dokumentation des Analyseprozesses, der verwendeten Methoden und der erzielten Ergebnisse ist notwendig, um die Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit des Gutachtens zu gewährleisten. Insgesamt ist es wichtig, sich der Herausforderungen und Grenzen der Bildidentifikation in der forensischen Praxis bewusst zu sein und stets bestrebt zu sein, die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Beurteilungen zu verbessern. Durch den Einsatz geeigneter Methoden, die Berücksichtigung möglicher Fehlerquellen und Verzerrungen, sowie eine kritische und selbstreflektierende Herangehensweise können Gutachterinnen und Gutachter dazu beitragen, die Gerechtigkeit und Fairness des Justizsystems zu fördern und zu erhalten.

 

— George A. Rauscher am 06. Mai 2023

Quellen:
Schwarzfischer, L. (1992). Zur Anwendung von Prädikatsklassen in der forensischen Lichtbildidentifikation. Archiv für Kriminologie, 189(3-4), 65-74.
Jain, A. K., & Ross, A. (2008). Introduction to Biometrics. Springer Science & Business Media.
Saks, M. J., & Koehler, J. J. (2005). The coming paradigm shift in forensic identification science. Science, 309(5736), 892-895.
Tredoux, C. G. (2002). A direct measure of facial similarity and its relation to human similarity perceptions. Journal of Experimental Psychology: Applied, 8(3), 180-193.
Dror, I. E. (2011). The paradox of human expertise: Why experts get it wrong. In N. Kapur (Ed.), The Paradoxical Brain (pp. 177-188). Cambridge University Press.
Farid, H. (2016). Photo Forensics. MIT Press.
Tversky, A., & Kahneman, D. (1974). Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. Science, 185(4157), 1124-1131.

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